Aufsatz in der Zeitschrift "Brücke der Hoffnung"

Frankl und die Frage nach dem Sinn

Was versteht man unter Logotherapie? Ganz oft wird Logotherapie mit Logopädie verwechselt, Letztere ist die Sprachheilkunde, die das griechische Wort logos mit Sprache übersetzt. Gut sprechen können ist wichtig für uns, Genauso wichtig ist der Sinn in einem Menschenleben – das ist die andere Übersetzungsmöglichkeit des Wortes logos: Dieser Sinn ist das Zentrum der Logotherapie, der sinnzentrierten Psychotherapie, Kein Tier fragt sich, ob es seinen Tag sinnvoll gelebt hat, das braucht es auch nicht, denn sein Instinkt führt es gut durch seine Tierexistenz. Aber für uns Menschen ist es eine essentiell wichtige Frage, ob wir unser Leben als sinnvoll erfahren oder ob wir keinen Sinn finden, nicht wissen, wofür wir überhaupt gut sind in dieser Welt, Dass die Sinnfrage die ganz entscheidende Frage ist, in Gesundheit und Krankheit, im Glück oder bei Schicksalsschlägen, in Jugend wie im Alter, das hat Viktor E, Frankl (Wien 1905 – 1997), entdeckt. Schon im Gymnasium bewegten ihn philosophische Fragen. Noch vor dem Abitur begann er eine Korrespondenz mit dem berühmten Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud und war begeistert von dessen Gedankenwelt. Frankl studierte Medizin und wurde schließlich Psychiater. Er sagte über sich, dass er von seinen Patienten am meisten gelernt hat und entfernte sich weiter und weiter von der psychoanalytischen Gedankenwelt, die immer weniger zu dem passte, was er durch seine Patienten begriff: Er entwickelte eine neue Therapieform, die Logotherapie. Als junger Psychiater leitete er von 1933 – 1937 den damals so genannten „Selbstmörderinnenpavillon“ im großen Wiener Klinikum Am Steinhof. Im Laufe dieser Jahre war er Arzt für Tausende verzweifelter und oft schwer depressiver Patientinnen. Natürlich fragte er sie nach ihren Lebensgeschichten und fand in ihren Erzählungen vieles, was eine Erklärung für ihre Krankheit zu sein schien: Sie hatten Armut erlebt, auch Missbrauchserfahrungen, Not, familiäres Leid, sie kannten Probleme mit Autoritätspersonen. Eine geniale Idee Frankls war, dass er damals schon eine Art Kontrolluntersuchung. machte. Er untersuchte eine große Zahl psychisch stabiler Menschen mit genau den gleichen Fragen, die er an seine Patientinnen gestellt hatte. Die Befragten waren Arztkollegen, Krankenschwestern, Studenten – alles Menschen, die noch nie wegen irgendwelcher Beschwerden psychischer Art auffällig gewesen waren. Es waren Menschen, die ihr Leben meisterten. Was war nun hier das Untersuchungsergebnis?
Frankl fand in deren Vergangenheiten lebensgeschichtliche Traumen, Tragödien in der Kindheit, Armut, dominante Autoritätspersonen. Die Geschichten der psychisch stabilen Personen unterschieden sich nicht signifikant von denen seiner Patientinnen,
Wie ist das zu erklären?
Nun, man muss sich nur das Wien im frühen 20. Jahrhundert vorstellen: Es waren ja annähernd vergleichbare schwere Bedingungen für die meisten, es gab genug Hunger, Arbeitslosigkeit, es gab reichlich Autoritätshörigkeit, Gewalt und Armut. Aber die einen gingen psychisch gesund durch dieses Leid – die anderen verzweifelten an ihrem Leben. Spätestens hier verabschiedete Frankl Freuds Traumatheorie, nach der – vereinfacht ausgedrückt – unsere aktuellen psychischen Probleme sich aus schweren Kindheitserfahrungen herleiten lassen. Das stimmt einfach nicht, Die große Frage war: Was hat die Gesundgebliebenen gesund gehalten? Frankls Untersuchungsergebnis war: Der Sinn war das protektive Element in annähernd gleich bedrückenden Lebenssituationen. Wer weiß, dass es auf einen ankommt, wer weiß, dass es wichtig ist, dass es ihn gibt, wer weiß, wofür er lebt – der ist geschützt vor psychischen Entgleisungen, auch wenn er Leid schultern muss.
Was ist nun dieser Sinn? Heute hört man oft die Antwort: Sinn ist, was gut für mich ist. Das mag manchmal so sein, aber das ist weit weg von der Definition, die Frankls Logotherapie zugrunde liegt. Hier ist Sinn das Bestmögliche, das in einer Situation von einem Menschen gelebt werden kann. Es gibt diesen Sinn nur „ad personam et ad situationem“, also immer passgenau zugeschnitten auf eine Person in einer bestimmten Situation. Passen muss er zu den Talenten und Kräften – was über- oder unterfordert ist sinnwidrig. Passen muss er auch zu den mitbetroffenen deckungen von Frankl. Das ist bis heute noch nicht anders, die Logotherapie ist im Grunde die entscheidende Therapieform für unsere Zeit: Die Sinnfrage bricht an allen Ecken auf. Auf die Frage „Was ist der Mensch?“ antwortet die Logotherapie: Er ist das Wesen, das immer schon nach Sinn sucht, Ein weiterer Schwerpunkt in der Logotherapie ist die „Ärztliche Seelsorge“, Sie ist ausdrücklich keine religiöse Seelsorge, denn Logotherapie muss Hilfe sein für Menschen jeder Glaubensüberzeugung bis hin zu denen, die Glauben überhaupt prinzipiell ablehnen, Und doch ist sie Seelsorge, d.h. sie stellt die Frage, wie kann ich Menschen beistehen, wenn die Medizin an ihr Ende gelangt ist, wenn es keine Heilung mehr gibt, wenn ein Schicksalsschlag unumkehrbar ist? Frankl nennt es die „tragische Trias“, dieses schwere Schicksal, unter dem wir alle stehen: Leid, Schuld und Tod – keiner kann dem aus dem Weg gehen.
Was haben wir als Therapeuten da noch für Antworten?
Die Logotherapie hat einen Schwerpunkt bei der Frage, welche Gedanken trösten können. Wir fragen, wie einer ein „Trotzdem Ja zum Leben“ (so ein Buchtitel Frankls) finden kann.
Logotherapie umspannt zwei Bereiche. Auf der einen Seite ist sie eine hochwirksame Therapie bei psychischen Krankheiten. Viel Beachtung hat gefunden, dass Angstkranke lernen können, ihrer Angst „ins Gesicht zu lachen“ (Frankl). Auch bei (noch?) unheilbaren Krankheiten wie z.B. der Schizophrenie kann Logotherapie eine Begleiterin sein.
Aber sie bietet auch etwas für Gesunde, für Noch-Gesunde und für Wieder-Gesunde. Sie ist eine Psychohygiene, die unsere Existenz daraufhin befragt, wie sinnvoll sie ist.

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